Nils Binnberg
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Welt am Sonntag

März 2019

Hilfe, ich esse viel zu gesund

Vor neun Jahren habe ich eine Essstörung entwickelt: die Sucht, mich gesund zu ernähren. Das klingt vielleicht nicht sehr dramatisch. Tatsächlich ist es fatal. Man nennt diese Essstörung auch „Orthorexie“. Das Leben eines Betroffenen ist irgendwann nur noch von Essen bestimmt. Unausgesetzt kreisen seine Gedanken darum, während er sich immer weniger an Nahrung zugesteht.

Zuletzt bin ich etwa zwanzig Ernährungslehren gleichzeitig gefolgt. Ich kannte die Nährwertangaben all meiner Nahrungsmittel auswendig. Sie mussten „bio“ sein und eine leistungssteigernde Eigenschaft aufweisen. Meine Ernährungsbiografie in Kurzform: Low Carb. Paleo. Glutenfrei. Laktosefrei. Clean Eating. Vegan. Jedes dieser Mus- ter war von Intervallfasten begleitet. Und von Schuldgefühlen, wenn ich meine Tabus brach.

Meine Ernährungsbiografie verlief dabei nicht so chronologisch, wie sie sich hier liest. Eher glich sie einem Ernährungssammelsurium, aus dem ich mir je nach Obsessionsgrad etwas herauszupfte. Immer in der Hoffnung auf ein schlankeres, gesünderes, schlaueres Ich, das mit dem richtigen Essen all seine Lebenskrisen bewältigen könnte.

Bis ich erkannte, dass ich ernsthaft krank bin, vergingen sieben Jahre meines Lebens. Ich weiß heute, wie widersprüchlich meine Geschichte ist. Lange hielt ich beharrlich an ihrem Plot fest. Weil ich an einer Krankheit litt, aber auch, weil es viele Menschen gab, die sich „Experten“ nannten und mich begleiteten. Sie haben mich nicht in die Essstörung getrieben. Aber sie haben mich darin bestätigt. Ich nenne sie heute Gurus, weil sie auf Blogs, in Foren, auf Bestsellerlisten und in sozialen Medien eine Jüngerschaft um sich scharen.

Solche Informationsquellen hatten auch für mich lange Zeit die Aura von exklusiven Geheimklubs, was nicht ungewöhnlich ist für einen Essgestörten: Foren und Kommentarspalten verstärken sein Gefühl, unter Gleichgesinnten und ganz normal zu sein. Nicht, dass ich dort jemals selbst kommentiert hätte. Aber ich habe unzählige Diskussionen stillschweigend mitgelesen.

Es braucht nicht viel, um aufseiten der Gurus einen Ernährungsschuldmythos zu fabrizieren. Nach einer fadenscheinig gezimmerten Drohkulisse („Weizen macht dumm!“), den immer gleichen Slogans („Wie gesund ist Kaffee wirklich?“) und ein paar wenigen Begleitsätzen („Immer gründlich kauen“) kommt es selbst dem rationalsten Zeitgenossen nicht mehr absurd vor, wenn er hört, dass er Früchte ab sofort am besten nur noch mit zweistündigem Abstand vor oder nach einer Mahlzeit essen sollte, weil sie nur dann richtig verdaut werden können.

Viele Wege führen in die von mir erlebte Krankheit. Eine Fastenkur als Vorsatz für das neue Jahr. Oder, wie in meinem Fall, ein Fitnesstrainingsprogramm, das zum Leistungssport wird. Der Auslöser für die Orthorexie ist dabei immer derselbe: Der Betroffene entwickelt die Vorstellung, dass er mit der richtigen Ernährung sein Schicksal kontrollieren kann. Dass er seine Lebensdauer verlängern, seine Lebensqualität verbessern, sich selbst heilen kann.

Andersherum, glaubt er, kann er von falschem Essen krank werden. Es gibt nach Schätzungen bereits eine Million Betroffene in Deutschland. Mag sein, dass diese Zahl überzogen ist. Weil unsere gesamte Kultur besessen ist von körperlicher Selbstoptimierung, ist es schwierig, die Grenze zu ziehen, wann man einfach ein gestörtes Verhältnis zum Essen hat oder eine Essstörung.

Die meisten Menschen in diesem Land leiden nicht an einer Essstörung. Trotzdem entwickeln hierzulande mehr und mehr ein verkrampftes Verhältnis zum Essen. Laut jüngsten Erhebungen soll jeder vierte Deutsche inzwischen bestimmte Nahrungsmittel im Supermarktregal liegen lassen, weil er glaubt, er vertrage sie nicht. Dabei betreffen Lebensmittelintoleranzen je nach Unverträglichkeit nur zwischen ein und fünfzehn Prozent der Bevölkerung.

Unser Umgang mit Essen ist hysterisch, misstrauisch und pathologisch geworden. Nichts oder wenig zu essen wird in unserer Gesellschaft belohnt; durch staatliche Bonusprogramme, durch die Modeindustrie, durch Aufmerksamkeit. Und die ist in Zeiten von sozialen Medien das höchste Gut. Schon das Vokabular, mit dem wir unser Essen beschreiben, ist so verpestet, wie man es einigen seiner Inhaltsstoffe nachsagt. Nahrungsmittel werden bezeichnet als Sünde, Gift oder Bombe. Weil die Industrie seit Jahrhunderten darauf zählen kann, dass kaum ein Geschäftsmodell so rentabel ist wie die Angstmacherei, knöpft sie dem Kunden Tausende für einen Mixer ab, weil der mit Drehzahlen eines Motorrollers den Grünkohl für den Smoothie vermeintlich besonders vitaminschonend häckseln soll. Und Grünkohlsmoothies, das weiß man ja auch schon seit einiger Zeit, verlängern das Leben …

In einer Mischung aus interessengesteuertem Halbwissen, Bauchgefühl und Autosuggestion begann ich, manchem Essen magische Qualitäten zuzuschreiben. Mandeln waren nunmehr nicht einfach Nüsse, sie waren „Brainfood“ und steigerten meine Gehirnleistung wie Ritalin. In den Pseudogetreidesorten Quinoa und Amaranth sah ich „Power-Körner“ für einen Power-Körper. Anderem Essen sprach ich solche Qualitäten ab. Echtes Getreide, vor allem Weizen, verklebte die Darmwand. Es drohten Lethargie und Immunstress. Soja führte zu Mangelerscheinungen, weil es „Antinährstoffe“ enthielt; sie sogen doch angeblich alle Mineralien wie einen Schwamm auf.

Orthorexie beschreibt nicht Menschen, die sich besonders gut ernähren. Es beschreibt Menschen, die sich von morgens bis abends fragen, ob sie sich gesund ernähren. Welche Aminosäuren sie zu sich nehmen sollten, um noch gezielter ihre Hormonproduktion anzukurbeln. Ob sie bereits genügend Antioxidantien intus haben für die Bindung von freien Radikalen. Und ob ihre Leber nicht wieder gedetoxt werden sollte mit einem Schuss Apfelessig im Wasser.

Mit solchen Fragen befassten sich auch die Patienten, die Mitte der 1990er-Jahre die Praxis von Steven Bratman aufsuchten. Der Arzt aus der Nähe von San Francisco praktizierte alternative Medizin und beschäftigte sich viel mit Ernährung, Yoga, Akupunktur. Irgendwann bemerkte er, dass seine Patienten zunehmend um ihre Ernährung besorgt waren. Sie fragten sich, ob vegan oder makrobiotisch gesünder sei, Rohkost oder Fermentiertes? Der Mediziner erkannte in ihren Gesundheitslehren Ernährungszwänge. Er selbst litt ebenfalls darunter. Bratman erfand für seine Patienten, in Anlehnung an „Anorexia nervosa“, der Magersucht, den Namen „Orthorexia nervosa“. Er verband dabei den altgriechischen Begriff „orthos“ für „richtig“ und das lateinische Wort „orexis“ für „Appetit“.

In indigenen Kulturen können magische Rituale Unheil abwenden. Zumindest können sie theoretisch die Angst nehmen vor Unfruchtbarkeit, Unwettern, Kriegen oder sonstigen Situationen, die sich der Kontrolle entziehen. Wann immer Chaos droht, schaffen Rituale Ordnung. Dasselbe gilt für eine Orthorexie. Sie ist ein Manöver zur Ablenkung von der inneren Unruhe. Die unausgesprochene Unzufriedenheit im Job, die ungelösten Spannungen in der Partnerschaft und die bösen Vorahnungen des Älterwerdens werden erträglicher, wenn es Essensregeln gibt.

Ich musste im vierten Jahr nach meiner Ernährungsumstellung jeden Tag etwas Grünes essen, zwei Liter Wasser trinken und meine Speisen ein paar Minuten lang kauen, um inneren Frieden zu finden. Wenn ich mich „clean“ ernährte, verspürte ich Hochgefühle, als sei ich der Dalai Lama. Wenn ich meinen Körper mit „schlechtem“ Essen beschmutzte, geriet ich in eine Abwärtsspirale aus Selbstekel und Verachtung. Um dort wieder rauszukommen, rannte ich entweder unmittelbar zum Sport. Bevorzugt zum „Cross-Fit“, eine Art Zirkeltraining auf Speed. Wahlweise zog ich mir einen „Fat Porn“ rein. So sagt man zu Dicken-Sendungen im Fernsehen. Die Abnehmkämpfe lösten in meinem Innern ebenfalls Ekelgefühle aus, diesmal schadenfrohe. Sie wirbelten meinen inneren Schmutz auf, der sich daraufhin wie ein Staubfilm verzog. Ich spürte, wie sich wieder Reinheit in mir ausbreitete.

Mit einer Orthorexie wird man im ursprünglichen Sinn des Wortes: asozial. Man sitzt als schlechtes Gewissen stellvertretend mit am Tisch. Wie ein Politiker auf Wahlkampf-Tour platziert man die Parolen der Ernährungsgurus und will anderen Menschen seine Lehren aufzwingen. Mit einer streberhaften Unart sprach ich beim Essen über das Essen, also jetzt nicht über die virtuose Zubereitung dessen, was vor mir auf dem Teller lag, sondern über die gesundheitlichen, zum Teil appetitvermindernden Folgen des Essens. Wer wollte ernsthaft von Verdauungssäften, Ausscheidungsprozessen und Darmbakterien-Kolonien hören, wenn er gerade in ein saftiges Stück Steak biss? Ich wundere mich bis heute, dass niemand mal „Nils, stopp jetzt“ gesagt hat. „Es reicht. Du verdirbst uns den Appetit.“

Vor ungefähr zwei Jahren bemerkte ich, dass ich immer häufiger Verabredungen in Restaurants schwänzte, wenn mir die Menükarte nicht passte. Die hatte ich vorher im Internet recherchiert. Ich fühlte Wut in mir brennen, wenn meine Freunde mal wieder nicht nach meiner Essens-Pfeife tanzten. Ich realisierte, dass ich meinen Freund, meinen Job, alles andere im Leben öfter vernachlässigte, weil mein Geist vor allem von Essen bestimmt war. Dass ich mich vor Lebensmitteln ekelte, die nicht „bio“ waren, und zwar so extrem, als hätte man mir ein gegrilltes Katzenbaby aufgetischt.

An diesem Punkt begann ich, mir Fragen zu stellen. Was stimmt nicht mit mir? Ist mein Körper krank, oder ist es meine Wahrnehmung? Bin ich irgendwo falsch abgebogen? Das Buch, was ich darüber geschrieben habe, erzählt von meiner Suche nach den Antworten.

Auszug aus dem heute erschienenen Buch von Nils Binnberg: „Ich habe es satt! – Wie uns Ernährungsgurus krank machen“, Suhrkamp, 12,95 Euro

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