Herr Ouchenir, welcher Name in der Modewelt geht besonders gut von der Hand?
NICOLAS OUCHENIR: Carine Roitfeld.
Das kam jetzt aber schnell.
Aber ich bitte Sie. Schauen Sie sich ihre Initialen an: CR. Wie sinn- lich und sexuell das aussieht. Wie ein Swoosh. Ihr Name reprä- sentiert wirklich ihre Persönlichkeit. Schließlich war sie es, die als Chefin der französischen Vogue den Sex und den Glamour in die Mode brachte.
Und welcher Name lässt Ihre Hand eher nervös zittern?
Ein Name, der schon beim Aussprechen Krach macht: Didier Krzentowski, ein Galerist aus Paris, dessen Namen ich zum Glück nur ein paar Mal schreiben musste. Dieses Konsonantenknäuel! Da ist meine Hand total verkrampft. Wer mir allerdings häufiger Sorgen bereitet, ist Anna Dello Russo, die Modechefin der japanischen Vogue. Sie hat einen sehr exzentrischen Stil und eine übergroße Persönlichkeit. Ich bin jedes Mal versucht, dem gerecht zu werden, wenn ich ihre Ein- ladung schreibe. Aber es geht ja nicht um sie, sondern um die Marke.
Eine große Modenschau hat 3000 Gäste. Alle bekommen eine persönliche Einladung. Kann es sein, dass es in Ihrem Atelier mitunter zugeht wie in einem Sweatshop?
Moment mal, ich bin doch Kalligraf, kein Fotokopierer! Ich mache tatsächlich alles allein. Jede Schrift, jeder Buchstabe von mir hat einen ganz eigenen Rhythmus. Ich verkaufe meine Arbeit so erfolgreich auch wegen der kleinen Fehler, die ich zulasse. Ein Tintenspritzer hier, ein Tintenspritzer dort, der Füller, der am Wortende zufällig abrutscht. Das lässt sich nicht so leicht kopieren. Ich habe mal versucht, meine Assistentin eine Schrift von mir fälschen zu lassen. Das ist komplett danebengegangen. Da hatte ich sofort einen empörten Kunden am Hörer.
Inzwischen sind Sie die rechte Hand für fast alle Luxushäuser dieser Welt.
Der Unterschied zwischen mir und meinen Mitbewerbern ist, dass sie alte Kalligrafien einfach nur kopieren. Im Grunde gibt es in Europa drei Stilrichtungen der Kalligrafie: die britische Stilrichtung, die sehr blumig ist, die französische, eher schlicht gehalten, und die gotische. Das war’s. Langweilig, oder? Ich sehe eine Kalligrafie eher wie eine eigene Unterschrift. So wie der Coca-Cola-Schriftzug. Selbst wenn man damit »Fuck you!« schriebe, läse jeder noch etwas Positives darin. Kalligrafie funktioniert wie ein Logo. Mich reizt genau das: Buchstaben zu transformieren und ein eigenes Alphabet zu kreieren.
Was meinen Sie damit?
Also gut: M wie Miu Miu zum Beispiel. Die Marke ist die kleine Schwester von Prada, etwas ungezogener. Ich stelle sie mir so vor, als hätte sie ein kleiner Junge geschrieben, der aus einer äußerst wohlhabenden Familie stammt und eine Eliteschule in England besucht. Also gestalte ich die Schrift sehr versiert, aber auch ein wenig verrückt. Bei Dior ist es ganz anders. Da ist alles eine Frage des Patriarchats, das Monsieur Dior geprägt hat. Der Schreibstil von Dior ist kräftig und ausladend, mit einem starken Schwung. Sie musste wie ein Logo seiner Persönlichkeit funktionieren.
Wie viele Liter Tinte verbrauchen Sie pro Saison?
Ich habe noch nie genau gezählt. Es sind zumindest immer genügend Tintenfässer da. Ich schaffe am Tag bis zu 1500 Einladungen samt Briefumschlag – das biete ich als Set an. Pro Saison sind das vielleicht gut 15 000 Stück. Dann kleckere ich ja auch noch sehr viel – der Tintenklecks ist mein Markenzeichen. Vier Liter müssten es schon sein.
Haben Sie keine Angst, dass Ihre Hände irgendwann streiken?
Aber ja doch. Ich habe für beide eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Bisher haben sie mich aber noch nie im Stich gelassen. Ich passe gut auf sie auf, mache spezielle Dehnübungen und lasse sie massieren. Manchmal zieht es ein wenig im Nacken, wenn ich gebückt über meinem Zeichenblatt sitze. Dann mache ich einfach ein paar Klimmzüge.
Wie haben Ihre Eltern reagiert, als Sie sagten »Ich möchte Kalligraf werden«?
So wie alle Menschen, denen ich sage, was mein Job ist: mit einem erstaunten Gesichtsausdruck und der Frage »Gibt’s das noch?«. Trotzdem waren sie gelassen. Ich hatte ja schon eine Ausbildung zum Betriebswirt. Als Student habe ich in einer Galerie gejobbt. Irgendwann sollte ich Einladungen für eine Ausstellung von Niki de Saint Phalle schreiben. Der Andrang war riesengroß: Meine Schrift hatte dafür gesorgt, dass viel mehr Gäste als üblich kamen.
Wie verlief Ihr Weg dann von der Kunst zur Haute Couture?
Eine Freundin vermittelte mir den Job, Briefe und Einladungen für Versailles und die Rothschild-Familie zu schreiben. Plötzlich war ich in sehr einflussreichen Kreisen und wurde von dort aus in die Mode weiterempfohlen. Mein erster Kunde war Yves Saint Laurent. Es folgten Prada, Miu Miu und Rick Owens, für die ich jeweils eigene Schriften entwickelte. Jetzt beliefere ich fast jedes Modehaus.
Warum lädt die Modebranche eigentlich noch jeden Gast mit einer handschriftlichen Einladung ein?
Heute grenzt sich Luxus nicht mehr durch bessere Produkte ab, sondern durch Kundenbindung. Der Kunde soll sich einzigartig, von einer Marke umsorgt fühlen. Eine handgeschriebene Nachricht ist der erste Schritt: Man fühlt sich direkt angesprochen, das streichelt das Ego. Das ist der Kern von Luxus.
Verdanken wir am Ende der Luxusindustrie, dass die Handschrift doch nicht ausstirbt? Durch SMS und E-Mail sind wir ja kaum mehr in der Lage, mit Füller und Bleistift zu schreiben.
Das ist doch alles bloß Hysterie. Wir schreiben in bestimmten Situationen immer noch mit der Hand. Beileidsbekundungen etwa oder Geburtstagskarten. Eben immer, wenn es uns wichtig erscheint, eine respektvolle und persönliche Ansprache zu finden. Ein Liebesbrief wird niemals durch eine SMS oder E-Mail ersetzt. Selbst Emoticons scheitern daran, eine eigene Identität herzustellen. Diese Kraft hat nur eine Handschrift.
Das klingt romantisch.
Ich freue mich halt, wenn ich eine Postkarte von jemandem bekomme, den ich liebe. Das ist doch viel schöner als eine Notiz in der Facebook-Chronik. Für einen Brief muss man sich anstrengen. Man muss zum Briefkasten gehen. Und dann bekommt man etwas, das man in den Händen halten kann, das man riechen kann und bei dem man den Rhythmus der Buchstaben spüren kann. Da werden Gefühle ausgedrückt.
Und wenn jemand eine Sauklaue hat?
Ich finde jede Handschrift schön. Auch wenn Kalligrafie übersetzt die »Kunst des schönen Schreibens« bezeichnet: Schönheit liegt ja im Auge des Betrachters. Ich etwa finde es schön, wie Ärzte schreiben. Dieses Geschmiere, das hastig zu Papier gebracht wird und das man kaum lesen kann, sieht sehr kunstvoll aus. Die Einzigartigkeit einer Schrift fasziniert mich.
Wie sieht Ihre eigene Handschrift aus?
Ich habe gar keine mehr. Mein Stil verändert sich ständig. Jedes Mal, wenn ich einen Scheck unterschreibe, zögere ich kurz und muss überlegen, welche Unterschrift ich bei meiner Bank hinterlegt habe. Manchmal passiert es mir sogar, dass ich in der Kalligrafie eines Modelabels unterschreibe.